Veranstaltung

Von kämpfenden Kartoffeln und fliegenden Fischen

2015 stellt Werner Baumgartner nach 33 Jahren seine Pflanzenproduktion im Reckenholz in Zürich-Affoltern ein. Die neu gegründete Gemüsegenossenschaft Meh als Gmües nutzt die Gunst der Stunde und pachtet die städtische Liegenschaft mit dem Ziel, das Hunzikerareal der Genossenschaft mehr als wohnen mit Gemüse zu versorgen.

Trotz Regen finden sich über 50 Interessierte zu der Führung von Frank Meissner, der als Gemüsefachkraft die genossenschaftlichen Helfer_innen anleitet und professionelles Know How einbringt sowie Matthias Probst, einem der Initiant_innen über das Gelände ein. Wer ordentliche Gemüsebeete erwartet, staunt erst mal über Berge von Betonplatten und Steinen. Versiegelte Flächen und «15 verschiedene Bodensorten» habe er hier vorgefunden, erzählt Frank. Also räumten sie auf und experimentieren nun mit selbstangebauter Gründüngung, Mischkulturen oder Verrottungshügeln um den Boden fruchtbar zu machen. «Die Artischocken und Kartoffeln müssen im kargen Boden kämpfen, dafür schmecken sie dann aber umso besser». Viele der Gewächshäuser sind veraltet, zubetoniert und nicht mehr brauchbar, aber die grosse Jungpflanzenzuchtanlage hätte Potential, auch andere Initiativen zu beliefern. Trotz aller Widrigkeiten konnten die Gemüsetaschen bereits im ersten Jahr gefüllt werden und auch bei Regen finden sich bisher immer genügend Helfer_innen ein.

Auf dem Podium nehmen dann neben Matthias Probst, Fabian Weinländer von den UrbanFarmers und Tina Siegenthaler vom der Kooperationsstelle für urbane Landwirtschaft Solawi Platz. Unter der Moderation von Sabine Wolf kommen schnell wesentliche Fragen auf den Tisch: Kann urbane Landwirtschaft überhaupt einen relevanten Beitrag zur Versorgung, Erhaltung der Lebensgrundlagen und Gewährleistung des Tierwohls leisten, wie es im Landwirtschaftsgesetz der Schweiz gefordert wird?

Da sind sich die Podiumsteilnehmenden einig: Sie sehen sich und ihre Projekte zur Zeit noch als Pionier_innen. Der gesellschaftsverändernde Einfluss ist aber unbestritten, denn die  konventionelle Landwirtschaft ist weder nachhaltig noch zukunftsfähig. Hier setzt Solawi an, Produzierende und Verbraucher_innen werden vernetzt, bilden Produktionsgemeinschaften und entwickeln das Prinzip der solidarischen Landwirtschaft, das in der Schweiz immerhin schon seit 40 Jahren existiert.

Zur Notwendigkeit, alles zur Grundversorgung der urbanen Bevölkerung auch auf städtischem Boden anzubauen, gehen dann die Meinungen auseinander. Nach Matthias Probst wären die Flächen in Zürich ausreichend und da städtische Böden in der Regel fruchtbar sind, sieht er hier hohes Potential. Aber in einer städtischen Umgebung, die aussieht wie der Sechseläutenplatz in Zeiten der Anbauschlacht in den 40er Jahren, wollen dann doch nicht alle leben. Erholung in Parks und Grünflächen, Schönheit statt Nutzen ist auch wichtig für das Gemüt, findet das Publikum.

Einen anderen Ansatz verfolgen die UrbanFarmers: sie mieten Hausdächer und errichten dort hocheffiziente Gewächshäuser, in denen Fische gezüchtet werden. Mit deren nährstoffhaltigen Ausscheidungen produzieren die urbanen Farmer Gemüse in anorganischem Substrat für den Verkauf. Und das im Stoffkreislauf nach Bio-Richtlinien. Produktion für den wachsenden urbanen Bio-Lifestyle? 450 verschiedene Gemüsesorten sind möglich, allerdings kein Wurzelgemüse. Das braucht, genau wie das Fischfutter, Erde.

Wie sieht es mit der Nachfrage und dem Marktpotential aus? «Unser Gemüse hat keinen Marktwert und wir wollen es auch gar nicht verkaufen» propagiert Matthias. Die Produktion wird finanziert, nicht die Produkte, ergänzt Tina. Dies entlastet die Produzent_innen vom Preisdruck und sichert ihr Einkommen. Auf der anderen Seite bestimmen die Konsument_innen mit, was mit welchen Methoden angepflanzt wird. Sie eignen sich Wissen an und die Wertschätzung landwirtschaftlicher Arbeit wird gefördert. Der Austausch mit Schulklassen oder die angebotenen Lehrgänge erfüllen auch einen Bildungsauftrag. Produziert wird nicht für den Müll, sondern alles landet direkt auf dem Teller; hier wächst eine neue Generation von Prosument_innen heran. Dafür sind basisdemokratische Genossenschaften die ideale Organisationsform, findet Tina. Wachstum bedeutet für die solidarische Landwirtschaft eine Vielzahl an Initiativen, die einzelnen Gruppen sollen aber überschaubar bleiben.

Die Frage nach dem Tierwohl findet Fabian dann fast schon philosophisch: Ist es besser Wildfang aus dem Atlantik zu essen, mit Plastikteilchen im Magen und hunderte Kilometer entfernt mit entsprechendem Beifang aus dem Meer gefischt? Oder esse ich vielleicht doch lieber Fische aus dem Bassin auf dem Dach, die nur mit zertifiziertem vegetarischem Biofutter aufgezogen werden und deren Ausscheidungen nicht ins Grundwasser fliessen, auch wenn sie in ihrem Leben keine Korallenbänke zu Gesicht bekommen sondern mit Freunden durch den leeren Tank schwimmen? Zur Verbesserung des Stadtklimas tragen jedenfalls beide Modelle bei, denn auch ein Gewächshaus auf dem Dach verringert die Erhitzung des Gebäudes. Wichtiger findet Matthias aber den Beitrag zur persönlichen Ökobilanz, da sei saisonales lokal für den Bedarf produziertes Gemüse unschlagbar.

Und was wünschen sich die Teilnehmer_innen für die Zukunft? Für Tina liegt das Potential für die Versorgung von Genossenschaftssiedlungen mit mehr als (nur) Gemüse auf der Hand: Backwaren, Milchprodukte oder Bier, aber vielleicht auch andere Produkte könnten solidarisch produziert werden. Bezogen auf eine Siedlung oder einen Quartierteil verringern sich Transport- und Verteilwege, der Austausch untereinander stärkt und vermindert Risiken. Matthias wünscht sich mehr Mitglieder, damit sich Meh als Ggmües irgendwann spalten und neue Felder erschliessen kann. Und Fabian sieht die Vielfalt urbaner Produktionsweisen als entscheidend an, denn ein Modell allein wird die Welt nicht verändern.

Die Teilnehmenden setzen den Austausch bei frischen Rüebli und Bier der allgemeinen Braugenossenschaft fort. Geht die Saat auf, entstehen in Zukunft hoffentlich viele neue urbane Landwirtschaftsprojekte in den Zürcher Genossenschaften und anderswo.